Gestern fanden die Bundestagswahlen statt. Die Wahlbeteiligung war mit 82,5 Prozent so hoch, wie seit 1987 nicht mehr. Das ist gut. Was haben die Bürger gewählt? Hier biete ich eine Analyse der anderen Art.
- Die Kehrtwende in der Migrationspolitik: Mit CDU/CSU, FDP, AfD und BSW haben sich rund 59 Prozent der Wähler für eine deutlich restriktivere Migrationspolitik ausgesprochen.
- Pro Ukraine-Politik: Mit CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen haben sich rund 61 Prozent der Bürger für einen pro-ukrainischen Kurs und auch einen Pro-Rüstungs- und Pro-NATO-Kurs ausgesprochen.
- AfD-Brandmauer-Politik: Mit CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und Linkspartei haben rund 70 Prozent der Bürger für eine Brandmauer-Politik gegenüber der AfD gestimmt. Auch wenn die Parteien unter der Brandmauer unterschiedliche Dinge verstehen, sind sie sich in einem Punkt einig: Keiner will mit der AfD koalieren.
- Wirtschaftspolitische Kehrtwende: Mit CDU/CSU, FDP, AfD und BSW haben rund 59 Prozent der Bürger für eine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik hin zu mehr Wachstum und weniger Bürokratie gestimmt.
Diese Darstellung überparteilicher, themenbezogener Mehrheiten ist natürlich sehr stark vereinfacht. Diese Vereinfachung hilft aber dabei, das Dilemma unserer Demokratie und der neuen Bundesregierung zu verstehen.
Was wird aus dem Ergebnis?
Das verzwickte am Wahlergebnis ist sein Niederschlag in Parlamentszusammensetzung und Regierungshandeln. FDP und BSW – 9,3 Prozent der Wählerstimmen – werden wegen der Fünfprozenthürde gar nicht im Parlament vertreten sein. Die nächste Bundesregierung hat ebenso ein Problem: Sie wird den per Wahl ausgedrückten Bürgerwillen wohl nicht so deutlich umsetzen, wie er gewünscht wurde. Das liegt ganz einfach daran, dass die Parteien sich untereinander nicht grün sind. Was sich in der Bevölkerung ja ebenso widerspiegelt.
Das Problem der großen Koalition
Eine Regierung aus Union und SPD mag sich bei Ukraine, Brandmauer und anderen Grundsatzthemen einig sein. Bei Migration und Wirtschaft haben sie unterschiedliche Positionen. Was bedeutet es für unser Land, wenn bei den Themen Migration und Wirtschaft nur halbgare Dinge entschieden werden? Die Union hat gewonnen, die SPD hat verloren. Eine Koalition mit einem Wahlverlierer? Wie finden das die Bürger? Wird die große Koalition so „wurschteln“, wie es unter Merkel jahrelang der Fall war? Wird der Wahlverlierer SPD verhindern, dass sich der Bürgerwille „restriktive Migrationspolitik“ durchsetzt? Oder wird sich die SPD dem allgemeinen Wählervotum fügen – obwohl es nicht das Votum ihrer Wähler war?
Das schwarzblaue Schreckgespenst
Die AfD wünscht sich eine Koalition aus Union und AfD. Beide Parteien sind Wahlgewinner – die AfD sogar sehr deutlich. Beide Parteien wollen eine neue Migrations- und Wirtschaftspolitik. Das würde doch passen, oder? Beim Thema Ukraine, Russland und NATO liegen sie jedoch weit auseinander. Beim Umgang mit Rechtsextremismus und vielen anderen Dingen ebenso. Auch schließt die Union eine Koalition mit der AfD kategorisch aus. Es gäbe hier also eine Mehrheit bei bestimmten Themen – bei anderen jedoch nicht. Angenommen, die Union risse die Brandmauer nieder und bildete eine Koalition mit der AfD: Wie glücklich wären die Bürger damit? Was würden die Wähler der Union dazu sagen? Würde die Koalition die Probleme unseres Landes lösen? Was würden die Wähler der AfD sagen, wenn die Regierung Militärgerät in die Ukraine schickt? Würden Unions- und AfD-Politiker all die Kröten schlucken wollen, die sie schlucken müssten?
Wie könnte der Bürgerwille regieren?
Ungeachtet davon, dass es unwahrscheinlich oder praktisch nicht möglich ist: Wie würde eine dem Wahlergebnis angemessene Politik aussehen? Wie könnte sie umgesetzt werden? So: Die Union bildet eine Minderheitsregierung und stellt den Kanzler. Sie besetzt Ministerien mit Ministern aus der Union aber auch mit Personen aus der SPD – zum Beispiel mit Boris Pistorius für Verteidigung. Die Union stellt sodann all ihre Gesetzentwürfe dem Parlament zur Abstimmung. Es wird wechselnde Mehrheiten geben: Beim Thema Ukraine und NATO stimmen zum Beispiel Grüne und SPD zu. Klare Mehrheit. Beim Thema Migration stimmt die AfD zu. Klare Mehrheit. Beim Thema Wirtschaft stimmen aus jeder Fraktion Parlamentarier zu. Klare Mehrheiten. Mir ist bewusst, dass unser Parlament so nicht funktioniert. Vielleicht gibt es gewichtige Gründe, die dagegen sprechen. Ich denke aber, dass dies richtig wäre. Ich vermute, dass eine Mehrheit der Bürger es begrüßen würde, wenn Parteien nicht mehr verhindern würden, dass sich Vernunft durchsetzt.
Wahlprogramm vs. Realität
Was bei der Debatte um Politik oft vergessen wird: Bei Wahlen und in Demokratien geht es nur zum Teil um Wahlprogramme. Es geht ebenso um die Wahl von Entscheidungsträgern. Es geht um Personen und Parteien, die Verantwortung übernehmen. Es ist logisch, dass keine gewählte Person oder Partei ihr Wahlprogramm eins zu eins umsetzt. Oder umsetzen kann. Denn sobald eine Regierung im Amt ist, muss sie mit dem umgehen, was ist. Mit der Realität. Mit innen- und außenpolitischen Gegebenheiten und Entwicklungen. Vor allem aber: mit dem, was kommt und was jetzt noch nicht ist. Was jetzt noch keiner weiß. Was in keinem Wahlprogramm steht. Das heißt: Bürger wählen nicht nur Wahlprogramme. Sie wählen Persönlichkeiten und Organisationen. Die müssen dann mit allem umgehen, was in Zukunft kommt. Welche Prioritäten setzen sie? Wie werden sie reagieren? Was werden sie entscheiden? Wie benehmen sie sich generell? Wie treten sie auf? Welchen Stil pflegen sie? Das alles sind wichtige Entscheidungskriterien.
Viel Glück
Ich wünsche unserer neuen Bundesregierung viel Erfolg dabei, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern, die da sind: Migration und innere Sicherheit. Aufrüstung und äußere Sicherheit sowie Bündnisverteidigung. Wirtschaft und Wohlstand. Und das zum Zweck des langfristigen Erhalts der Freiheitlich-Demokratischen-Grundordnung. Das alles wird nicht einfach. Umso mehr sage ich als Bürger: Viel Glück! Viel Erfolg!
Beitragsbild: © Arne Kruse