Immer nur ätzen ist ätzend

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Früher dachte ich, dass unter gebildeten Erwachsenen und generell in der Berufswelt die Vernunft und der gute Wille vorherrscht. Also in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Politik und in den Medien. Ich war selbst ausgesprochen „verkopft“. Vielleicht bin ich es noch immer. Ich dachte: Mit Logik sei vieles erklär- und lösbar. Gab es irgendwo Fehlentwicklungen, so lag es ganz sicher an falschen oder fehlenden Informationen der beteiligten Personen. Demnach würden korrekte Informationen und Nachdenken die Dinge zum Besseren wenden. Passierte das nicht, habe ich das nicht verstanden. Oder es hat mich je nach Situation schockiert, enttäuscht oder frustriert. Meine Grundannahme lautete: Alle sind doch am bestmöglichen Ergebnis interessiert. Allen geht es doch um die Sache. Vernunft, kühle Analyse, sachgerechte Abwägung und wohlmeinende Beflissenheit seien die Lösungen für kleinere und größere Probleme der Menschheit.

Heute weiß ich, dass meine Grundannahmen alle falsch waren. Menschen haben die Gabe der Vernunft, aber sie haben auch Gefühle, Überzeugungen und Persönlichkeiten. Starke Gefühle, die sie in Wallung bringen. Gefühle, die hinter der rational-seriösen Fassade wirken. Gefühle und Überzeugungen, die „unvernünftig“ sind und mächtig. Gefühle und Überzeugungen, die sich ausdrücken wollen. Jeder Wissenschaftler, Manager, Politiker und Journalist – jeder Mensch, selbst ich – hat Gefühle, Überzeugungen und Persönlichkeiten, die hinter der seriösen und professionellen Fassade arbeiten und wirken. Und je nachdem, wie diese irrationalen Triebfedern gestrickt sind, ermöglichen oder verhindern sie Vernunft und Bemühungen „in der Sache“. Das kenne ich natürlich auch von mir selbst. „Himmelhochjauchzend“, „blind vor Liebe“, „zu Tode betrübt“, „rechthaberisch“ – obwohl es rein sachlich weder für das eine noch für das andere rationale Anhaltspunkte gab und gibt. Gefühle, Überzeugungen und Persönlichkeiten wirken mächtig in der Welt. Sie bestimmen den Lauf der Dinge. Natürlich zählen auch die Vernunft und der gute Wille dazu. Jedoch nur, wenn sie eine Chance erhalten. Die Chance kann jeder nur selbst aus sich heraus gewähren.

Mir fiel vor 20 Jahren auf, dass Menschen, die sich eher links verorteten, völlig emotional, ideologisch und irrational argumentierten und mobbten. Ihrem Außenauftritt nach waren sie jedoch neutrale Bürger, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten. Das ist heute immer noch so. Der Unterschied ist nur, dass sie heute von rechter sowie von „liberal-konservativer“ Seite Unterstützung erhalten.

Auf dem Foto sieht man alle Ausgaben des Magazins Tichys Einblick des Jahres 2022. Ich fand das Magazin früher einmal ganz gut und wichtig. Es war mir zwar oft etwas zu ausfallend gegen Personen. Aber sachlich-argumentativ enthielt es Beiträge, die ich teilte. Auch veröffentlichen dort Leute, die ich schätze. Seit einigen Jahren wurde der „Sound“ des Magazins jedoch immer lästernder und negativer. So kam und kommt es mir vor. Vielleicht war das aber auch schon früher so. Vielleicht habe ich mich nur selbst verändert. Entfremdet. Wie auch immer, kein einziges Cover zeigt die Ukraine-Flagge. Es gab russland-kritische Beiträge. Aber irgendwie ist da eine Zurückhaltung spürbar. Viele Cover sind blanke Stimmungsmache gegen die Ampel-Koalition. Zuletzt immer gegen die bösen Grünen. Der Begleitsound der Beiträge im Magazin: meistens negativ-hämisch-frustriert-enttäuscht-ätzend-mobbend-überheblich-auslachend-besserwisserisch-lästernd. Die Leserbriefe nach dem Motto: „Alles ist schlecht, wir haben es immer schon gewusst, grün-links ist unser Untergang…“. Ausnahmen bestätigen die Regel. Immer nur Negativität, die bösen und dummen Grünen. Die dumme Merkel. Die dumme Ampel, der dumme Habeck. Unser Untergang. Das gleiche, nur schlimmer, erlebt man bei „Hallo Meinung“, und dann natürlich noch viel schlimmer bei der AfD und ihren Medien. Zusammengefasst: alles irgendwie opfermäßig. So empfinde ich das. Und dazu habe ich keine Lust.

Ich glaube nicht, dass sich durch Ätzen etwas zum Positiven wendet in unserer Gesellschaft. Mich erinnert das an Zeiten, in denen ich auf dem Bau gearbeitet habe oder an Jugendzeiten, wo man sich manchmal sinngemäß so ausgetauscht hat: „Na, alles scheiße?“ „Ja, alles scheiße“ „Ok, dann ist ja gut“. Solange alle schlecht gelaunt sind, die anderen schuld sind und jeder das bestätigt, ist die Welt in Ordnung.

Ich kann und will mich mit dieser Negativ-Mentalität und dem Stammesdünkel nicht identifizieren und gemein machen. Mit „Stammesdünkel“ meine ich die Eigenart einiger Menschen, sich unter Gleichgesinnten zusammenzutun und überheblich über „die anderen“ zu lästern. Das befriedigt sicher Bedürfnisse, schafft ein Ventil, vereint Menschen in der „Armee der Tristen“. Rammstein hat das gut beschrieben: „Depressiv, betrübt, zerschlagen, sollten wir zusammen verzagen, deprimiert und melancholisch, pessimistisch, diabolisch, gründen auf verblühten Rosen die Partei der Hoffnungslosen…“. Nein danke, das möchte ich nicht. Muss ich ja zum Glück auch nicht! Eine Lösung wäre übrigens, die andere Seite zu Wort kommen zu lassen und besser noch: Austausch und Respekt trotz aller unterschiedlichen Ansichten. Vielleicht haben „Liberal-Konservative“ aber genauso wenig Lust dazu, wie „Links-Grüne“. Jeder ist sich selbst der Nächste. Beide Seiten wissen schon alles und igeln sich in ihrem Bau, in ihrer Schmollecke ein, aus der heraus sie vergiftete Pfeile schießen. Großes Gelächter in der eigenen Gruppe, wenn den anderen Fehler passieren. Empörung. Mehr nicht. Jeder, wie er mag.

Ich mache lieber etwas anderes.

Beitragsbild: © Arne Kruse


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