Deutschland, Deutschsein und die Nazi-Zeit

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Was „darf“ ich als Deutscher?

Wie deutsch bis Du? Sehr deutsch, mittel, oder nur wenig? Was genau bedeutet überhaupt „deutsch“? Wann bist Du ein „richtiger“ Deutscher? Bin ich es? Was macht Deutschland aus? Kann jeder Deutscher werden, wenn er es will? Stimmt es, dass „man als Deutscher“ dieses und jenes „ja nicht sagen darf“? „Darfst“ Du gewisse Dinge nicht tun, „weil Du eben Deutscher bist“ und Deutschland den Zweiten Weltkrieg samt Holocaust vom Zaum gebrochen hat? „Wegen damals“ eben?

Narrative zum Deutschsein

In diesem Beitrag gehe ich auf diese Wahrnehmungsweisen und „Narrative“ – also Erzählungen – in Deutschland ein. Ich halte sie nämlich für falsch, unaufgeklärt und kindisch. Stattdessen präsentiere ich hier Denkanstöße und Sichtweisen, die mir helfen und Dir vielleicht auch.

Alles beginnt mit der Identifikation

Ich habe mich schon oft gefragt, warum ich selbst das nicht habe, was nicht wenige Deutsche zu haben scheinen: Unbehagen oder Überheblichkeit aufgrund der eigenen Nationalität und Abstammung. Das gilt übrigens nicht nur für Deutsche. Auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die sich einbilden, ihre Nationalität oder Abstammung mache sie selbst aus. Das ist meiner Meinung nach die Ursache von Unbehagen – im schlimmsten Fall Selbsthass – einerseits und Überheblichkeit – im schlimmsten Falle Nationalismus und Rassenhass – andererseits.

Die Frage ist: Womit identifiziere ich mich? Wer bin ich? Warum bin ich so, wie ich bin? Warum sind andere so, wie sie sind? Bin ich „schuldig“, weil meine Vorfahren schlimme Dinge getan haben? Hafte ich für das, was meine Vorfahren getan haben? Machen mich die guten Dinge, die meine Landsleute früher getan haben oder heute tun, zu einem besseren Menschen? Definieren die Handlungen meiner Mitmenschen mich?

Wer bin ich?

Vielleicht findest Du meine Antworten auf diese Fragen hilfreich.

Womit identifiziere ich mich? Wer bin ich?

Ich wurde in Deutschland geboren als Kind deutscher Eltern. Ich habe mich bislang nicht dazu entschieden, eine andere Staatsbürgerschaft anzunehmen und die Deutsche aufzugeben. Daher bin ich nicht nur ein Mensch, der seine Freiheit liebt und nach Glück strebt, sondern auch Deutscher. Ich identifiziere mich jedoch in erster Linie als Arne Kruse – einzigartig, wie alle anderen Menschen auch – und erst in zweiter Linie als „Deutscher“. Hinzu kommen weitere Identitäten: Ich bin ein Mann. Der SWR erkor mich zum Pfälzer. Gebürtig bin ich Schleswig-Holsteiner. Ebenso gehöre ich zur Gruppe der Väter. Das könnte jetzt ewig weitergehen, wie bei Dir auch. Wir gehören alle vielen Gruppen und Identitäten an.

Warum bin ich so, wie ich bin? Warum sind andere so, wie sie sind?

Das ist ganz einfach. Ich bin, wie ich bin und andere sind so, wie sie sind, weil meines Erachtens das hier wahr ist: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte, achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen, achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten, achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter, achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal“. Die Quelle dieser Lebensweisheit ist übrigens nicht der Talmud, sondern ein englischer Schriftsteller. Das bedeutet für unser Thema: Nicht meine Nationalität oder Abstammung macht mich zu dem, der ich bin, sondern mein Charakter, der wiederum auf meinen Handlungen und Überzeugungen beruht.

Bin ich „schuldig“, weil meine Vorfahren schlimme Dinge getan haben?

Nein, natürlich nicht. Abgesehen davon halte ich die Begriffe „Schuld“ und „schuldig sein“ für vorbelastete, nicht hilfreiche Begriffe. Sie führen in die Irre und lenken ab. Sie entstammen der christlichen Morallehre, genau wie „Himmel und Hölle“, „Gut und Böse“ oder „Scham und Schande“. Darum geht es jedoch nicht. Ich bin nur für das verantwortlich, was ich selbst getan habe und tue. Gleichzeitig lebe ich mit anderen Menschen zusammen in einer Gesellschaft – und diese Gesellschaft samt ihrer politischen, ökonomischen und mentalen Verfasstheit hat eine Gegenwart und eine Vergangenheit.

Im Falle Deutschlands hat diese Gesellschaft von 1933 bis 1945 furchtbare Dinge ermöglicht und getan. Das hat nur geendet, weil andere Gesellschaften eingegriffen haben. Ich wurde 1980 geboren, in Westdeutschland. Ich kann nichts dafür, was vorher war. Ich verstehe jedoch, dass es eine große Rolle spielt, wie meine Gesellschaft und ich selbst mich zu dieser Vergangenheit positionieren. In dieser Hinsicht bin ich dankbar, dass ich im Geschichtsunterricht die Wahrheit über die deutsche Vergangenheit lernen konnte. Von meinen Eltern weiß ich, dass dies in den 60er und 70er Jahren noch nicht passierte. Die Wahrheit über das Dritte Reich wurde auch in Westdeutschland nach 1945 konsequent geleugnet und verschwiegen. Das Thema wurde im gesellschaftlichen und familiären Alltag tabuisiert. Erst Folgegenerationen haben hier Transparenz geschaffen.

Hafte ich für das, was meine Vorfahren getan haben?

Ja. Nicht persönlich, aber gesellschaftlich. Jede Gesellschaft dieser Welt hat eine Vergangenheit und eine Gegenwart. In der Vergangenheit finden sich wohl in allen Gesellschaften Geschehnisse und Phasen, die furchtbar und unmenschlich waren. Auch die Gegenwart ist sieht nicht immer rosig und human aus. Dafür haften die Gesellschaften. Ob sie das wollen, oder nicht. Ein Beispiel: Deutschland hat als Nazi-Diktatur die ganze Welt ins Verderben gestürzt. Angesichts der Verbrechen der Nazis konnte Deutschland froh sein, dass es nach dem Krieg überhaupt noch als eigenständiges Land fortexistieren konnte. Wer Deutscher war, ist und werden will, muss sich dieser Realität stellen.

Die Realität anzuerkennen muss jedoch nicht bedeuten, darunter zu leiden. Deutschland ist seit vielen Jahren eines der freiesten und wohlhabendsten Länder dieser Welt. Die Nazi-Zeit wird nicht unter den Teppich gekehrt, sondern offen thematisiert. Das ist wichtig und gut. Ein anderes Beispiel: In und durch Russland geschahen unter Stalin furchtbare Verbrechen. Russland ist leider kein freies und demokratisches Land geworden. Die Geschichte wurde nie aufgearbeitet. Die russische Gesellschaft haftet dafür, ob sie das will, oder nicht.

Machen mich die guten Dinge, die meine Landsleute früher getan haben oder heute tun, zu einem besseren Menschen? Definieren die Handlungen meiner Mitmenschen mich?

Nein. Wenn ich mich wie ein Soziopath verhalte, meine Mitmenschen mobbe und hintergehe, dann kann mich die Zugehörigkeit zu oder die Abstammung von einer Gruppe „edlerer“ Menschen nicht davon reinwaschen. Ich muss mich damit abfinden, dass ich selbst der Verantwortliche für meine Handlungen und meinen Charakter bin. Andersherum gilt, dass wenn die Mehrheit meiner Mitmenschen dafür eintritt, bestimmte Menschen zu unterdrücken oder andere Völker zu vernichten, – ich jedoch nicht – dann ändern geteilte Zugehörigkeiten nichts daran, dass ich selbst ein Menschenfreund bin.

Schwierig wird es dann, wenn andere Menschen oder ganze Gesellschaften diesen Grundsatz missachten. Wenn sie also Einzelne aufgrund geteilter Zugehörigkeiten mit anderen „in einen Topf werfen“, wenn sie „alle über einen Kamm scheren“. Oder auch, wenn Verbrecher in Schutz genommen werden, weil sie bestimmten Gruppen angehören.

Anerkennen, was war und ist

Ich liebe Deutschland, die Deutschen und mich selbst. Die Vergangenheit Deutschlands war so, wie sie war. Verbrecherisch unter den Nazis. Ich sollte sie im besten Falle kennen, verstehen und aus ihr lernen. Im Geschichtsunterricht habe ich mich sehr für das Dritte Reich interessiert und sogar mein Abitur über Hitlers Außenpolitik und die NS-Ideologie geschrieben. Warum sollte ich die deutsche Geschichte beschönigen oder relativieren, wie es viele Leute in der AfD tun? Die Geschichte war, wie sie war. Sie ändert gleichzeitig nichts an mir persönlich, macht mich nicht zu einem schlechten Menschen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass nicht Wenige genau das denken.

Die Gegenwart sieht zum Glück anders aus. Dafür gibt es Ursachen. Eine Ursache für meine freie und humane Gegenwart in Deutschland heute ist, dass unter anderem die Amerikaner gegen die Nazis gekämpft und sie besiegt haben. Sie hätten es auch lassen können. Zum Glück haben sie das nicht getan. Eine weitere Ursache ist das Grundgesetz und die politische Ordnung, die es festschreibt: Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie. Doch ohne die Deutschen – ohne die Menschen, die jeden Tag aus Neue unsere gesellschaftliche Realität erschaffen und leben – wäre Deutschland nicht so wunderbar, wie es das heute ist.

Ich wünsche allen viel Spaß dabei, Verantwortung für den eigenen Charakter und das eigene Tun zu übernehmen, die deutsche Geschichte vorbehaltslos anzuerkennen und gleichzeitig wertzuschätzen, was Deutschland und Deutsche heute ermöglichen.

Beitragsbild*: © Arne Kruse

*Das Bild habe ich am United States Holocaust Memorial Museum in Washington aufgenommen.


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